Dieser Jesus ist anders als damals: Ein Mensch, der vor Zorn brüllt und vor Angst weint, kein Heiliger, keine andächtig-entrückte Hoheit. In den 85 Jahren Fränkische Passionsspiele haben sieben Männer aus Sömmersdorf (Lkr. Schweinfurt) die Figur unterschiedlich dargestellt. Fünf von ihnen leben noch und spielen in dieser Saison bis 19. August auf der größten Freilichtbühne Nordbayerns mit.
Die Seiten gewechselt hat allerdings der älteste von ihnen, Karlheinz Grünewald. Jetzt mimt der 64jährige nicht mehr den Erlöser wie zwischen 1978 und 2003, sondern einen, der Verderben bringt: Ammon, ein Mitglied des Hohen Rats, der den Nazarener sterben sehen will. Dem Laienspieler selbst waren der Tod auf der Bühne und der vorherige Leidensweg zu anstrengend geworden.
„Ich habe mit 49 Jahren noch den Jesus gespielt, das war physisch die Grenze“, denkt der Elektromeister an die Kreuzigung, bei der er 20 Minuten auf einer kleinen Plattform stehend mit ausgebreiteten Armen ausharren musste. Oder an die Geißelung: „Das war schlimm, damals war ich mit hochgestreckten Armen an einen Pfosten gebunden und wenn der Soldat am Strick gezogen hat, bin ich runtergefallen“.
Auch heute bedeutet diese Szene eine Strapaze für die Jesus-Darsteller Stefan Huppmann und Tobias Selzam, auch wenn sie jetzt zwischen zwei Pfosten hängen und noch 40 beziehungsweise 39 Jahre jung sind. Anstrengend ist und war auch der Kreuzweg, bei dem der Christus-Spieler das 25 Kilo schwere Holzkreuz über die Bühne schleppt und hinfällt. Schmerzen und blaue Flecken gehören dazu.
Von Natur aus ist Grünewald ein ruhiger, zurückhaltender Typ, „eher ein sanfter Jesus“, sagt er von sich. Seit diese Hauptrolle doppelt besetzt wird, seit 1978, spielen meist zwei gegensätzliche Charaktere diese Figur, sinniert er. Jedenfalls war sein Wechselspieler in den Jahren 1988, 1993 und 1998, Dieter Müller, eher der starke, selbstbewusste Anführer, der Revoluzzer: feste Stimme, schwarze Haare, schwarzer Bart.
„Laut und deutlich“ sei damals seine Sprache gewesen, erinnert sich der 52jährige an ein mikrofonloses Schauspiel. Heute dagegen schluchzen, flüstern und weinen die beiden Hauptdarsteller auf sehr menschliche Weise, beispielsweise in der Verzweiflung der Ölbergszene. So wie jeder Mensch reagieren würde und so wie das Regie-Duo Marion Beyer und Hermann Vief die Emotionen sehen will.
Im Typ sind der Berufschullehrer Tobias Selzam und der gelernte Schreiner Stefan Huppmann ebenfalls ein Gegensatz-Paar, „wie Erde und Feuer“, meint Selzam. Während Stefan „geerdet und fest wie ein Baum“ als Jesus stehe, sei er eher beweglicher, unstet, „vielleicht auch sanfter“.
Allerdings nicht so welt-entrückt wie sein Urgroßvater Josef Nuss: Der mimte 1933 und 1934 in den ersten Sömmersdorfer Passionsspielen vor dem Verbot durch die Nationalsozialisten den Jesus. „Dem Christusdarsteller ist die mit Sanftmut gepaarte Hoheit seines Vorbildes zur zweiten Natur geworden“, schrieb damals der Bayerische Staatsanzeiger.
Nach der Wiederaufnahme des Theaterstücks 1957 schlüpfte Josefs Sohn Rudi Nuss bis 1983 in die Rolle. Er und sein Vater Josef sind inzwischen gestorben. Für Rudi Nuss‘ Auferstehung hatte sich Regisseur Guido Halbig, der bereits vor dem Krieg das Drama inszeniert hatte, etwas Spektakuläres ausgedacht: Eine Feuersäule.
Vor dem Grab‚ damals nur ein Vorhang auf einer Bretterbühne, harrten vier Wächter am Lagerfeuer aus. Ein Rohr führte am Boden hinter den Vorhang, wo Jesus auf seine Auferstehung wartete. Von dort aus wurde Magnesium durch das Rohr ins Lagerfeuer geblasen, es gab eine Stichflamme, die Wächter fielen um, der Vorhang öffnete sich und Jesus stand da: im knappen, weißen Gewand, eine Siegesfahne in der Hand.
Nach einer Vorstellung 1978 kritisierte aber ein Pfarrer diese Auferstehung, denn mit Feuer komme nur der Satan. Von da an gab es einen Styroporfelsen, der beim Antippen umfiel und den Blick auf den Auferstandenen frei gab. Dazu kam vom Band das „Halleluja“ von Händel.
„Das muss man aus der Zeit heraus verstehen“, erklärt Grünewald, aus der damaligen Vorstellungswelt und der stärker verbreiteten Religiosität. Die Zuschauer, damals immerhin 20000 in jeder Spielsaison, waren jedenfalls angetan. Heute lassen sich 35000 begeistern.
Ganz anders und ziemlich bunt waren früher auch die Kostüme gehalten: Jesus trug ein weißes Gewand mit weinroter Scherpe, „elegant und akkurat“, erinnert sich Dieter Müller. Gegenüber der heutigen hellen Tunika eine edle Kleidung.
Dem früheren Jesus-Spieler, der jetzt ebenfalls im Hohen Rat als Schreiber Natanael auftritt, ist jene Szene in Erinnerung geblieben, als er 1998 am Kreuz hängend von einer Bremse in die linke Brust gestochen wurde. Als eigentlich schon toter Christus zuckte er unwillkürlich und versuchte noch, das Insekt wegzublasen, aber die Fliege stach ein zweites Mal schmerzhaft zu.
Durch das reflexartige Zucken riss die rechte Handmanschette, mit der der Arm am Kreuz aufgehängt ist. Mit drei Finger hielt sich Müller krampfhaft am Querbalken fest, überstand die Zeit und konnte spielkonform vom Kreuz abgenommen werden.
Mit jedem Regisseurwechsel gab es Veränderungen: Text, Sprache, Kostüme, Kulissen, neue Szenen. Mit 14 Aufzügen in vier Stunden begann 1933 das Passionsspiel, heute hat es 20 Szenen plus Prolog und Epilog in drei Stunden.
„Das Abendmahl war damals noch nach dem Vorbild des Da Vinci-Gemäldes“, denkt Volker Rückert an eine eher statische Szene seiner beiden Jesus-Jahre 2003 und 2008. „Früher war der Jesus mehr eine andächtige Heiligenfigur, jetzt ist er eher der Kumpel“.
Bewegung, Gestik, Aussprache veränderten sich, locker und emotionaler agiere er jetzt. Das heutige Abendmahl wird nicht mehr im Bühnenhaus gefeiert, sondern im Freien unter einem Zeltdach. Und die Auferstehung wird der Phantasie des Zuschauers überlassen: In der Gärtner-Szene begegnet Jesus der Jüngerin Maria Magdalena.
Für den Maschinenschlosser Rückert war es „schon eine Ehre, den Jesus spielen zu dürfen“, bekennt der leidenschaftliche Theaterspieler. Gläubiger sei er dadurch zwar nicht geworden, lächelt er. Aber besondere Momente habe es immer gegeben, eine Ergriffenheit etwa am Ende des Stücks. Oder als 2003 seine Tochter am Morgen geboren wurde, „und abends hing ich wieder am Kreuz“. Heuer zieht Rückert als Petrus mit Jesus durchs Land.
Der wird zum dritten Mal von seinem Sandkastenfreund Stefan Huppmann dargestellt. „Die Apostel sind jetzt lauter Jüngere“, erzählt dieser. „Wir haben eine tolle Stimmung in der Truppe“. Was das Ganze noch runder mache, noch „cooler“. Wie übrigens alle hinter der Bühne freundlich seien. „Das ist eigentlich das Besondere hier“.
Wenn sein Wechselspieler Tobias Selzam ihn als „geerdet“ bezeichnet, als unerschütterlich, dann charakterisiert er diesen als jemanden, der leichter Gefühle transportieren könne. „Jeder macht es anders, wir kopieren hier nicht“.
Text: Silvia Eidel, freie Journalistin